Macbeth, ein Stück für unsere Zeit?
Von Gesche Küper
Macbeth ist ein seltsam tatenloser Regent. Das gesamte Stück hindurch wird nicht klar, weshalb er eigentlich König werden wollte. Er regiert nicht, er ordnet nicht an, er erlässt keine Gesetze. Im Stück finden keine Staatsakte wie in anderen Königsdramen statt, keine Regierungsgeschäfte – einzig das Bankett, das dann durch Banquos „Erscheinung“ aus dem Ruder läuft, kann als Versuch eines Staatsaktes gewertet werden. Macbeth wird nur dann aktiv, wenn er seine Stellung als König bedroht sieht.

Der von ihm ermordete Duncan war ein guter und beliebter König. Das wird nirgendwo im Stück angezweifelt. Auch Macbeth war durchaus zufrieden mit Duncan als König, bezeichnet ihn als „so clear in his great office“ und lobt seine „faculties“ und „virtues“. Er zog für ihn in den Krieg und verteidigte ihn. Es geht ihm also offensichtlich nicht um eine bessere Herrschaft, auch nicht um die Macht, eigene Ideen für eine bessere Regierungsführung verwirklichen zu können. Und es geht ihm nicht um Reichtum. Von alledem ist im gesamten Stück nichts zu lesen. Es geht ihm offensichtlich nur darum, König zu sein, um die Position, um den Glanz, den der goldene Reif verbreitet. Es geht ihm um seine Stellung in der Gesellschaft, um sein Ansehen als Alpha-Tier – und für seine Frau geht es darum, mit ihrer Stellung als Königin ihren Stolz befriedigen zu können.
Auch Macbeth war durchaus zufrieden mit Duncan als König.
Wir müssen Shakespeares Protagonisten als Zeitgenossen des Autors, als moderne Menschen der Frühen Neuzeit verstehen und nicht als in den Zeiten lebend, in der ihre Rollen spielen. Shakespeares Jahrhundert war eine Epoche, in der sich in Europa ein über Jahrhunderte geltendes Weltbild aufzulösen begann. Nicht mehr eine durch die Kirche institutionalisierte Weltsicht lenkte jetzt das Denken, sondern die Menschen begannen, bisherige Grenzen zu überschreiten, geographisch, gesellschaftlich und wissenschaftlich. Shakespeare schrieb dieses Denken der Frühen Neuzeit, den Verlust der gewohnten Eindeutigkeit und die neue Ambivalenz in die Rollen seiner Figuren hinein. Sie zeigen die Unruhe, die beim Verlust der überlieferten Werte entstand und die Angst vor dem Neuen und Ungewohnten, die er selbst tagtäglich in den Straßen Londons erlebte.

So sind alle großen Rollen Shakespeares ambivalent in ihrem Denken: Hamlet, Lear, Cesar, Othello, Antony in den Tragödien – und in den Komödien werden sogar die Geschlechterrollen seiner Figuren uneindeutig, wir müssen nur an Viola und Rosalind in The Twelfth Night und in As You Like It denken.
Schriften wie De hominis dignitate von Pico della Mirandola, Il Principe von Niccolò Machiavelli und Il Libro del Cortegiano von Baldassare Castiglione formulierten die neuen Gedanken, die sich in der Gesellschaft bildeten und verbreiteten sie europaweit. Sie trugen zur Auflösung der festgefügten Gesellschaftsordnung und zur allgemeinen Verunsicherung bei – und wurden meistens missverstanden: Jeder Mensch habe laut Pico della Mirandola das Recht, sich über seinen Stand hinaus zu verbessern. Für das Erreichen individueller Ziele, für Macht und Ansehen, sollten nun, wenn man Machiavelli Glauben schenken wollte, ethisch-moralische Grundsätze als nicht mehr verbindlich gelten, während das fare bella figura, die Zurschaustellung von bloßen Äußerlichkeiten und das Vortäuschen von positiven Eigenschaften, entscheidend für die eigene Stellung in der Gesellschaft wurde.
So sind alle großen Rollen Shakespeares ambivalent in ihrem Denken und in den Komödien werden sogar die Geschlechterrollen seiner Figuren uneindeutig.
Schon in der ersten Szene von Macbeth wird die bestehende Moralordnung angezweifelt – und das „fair is foul, and foul is fair“ der Hexen klingt weiter durch das gesamte Stück. Die bestehenden Regeln der Moral, an denen sich die menschliche Gesellschaft bisher orientierte und organisierte, werden von den Hexen gestört, wenn nicht gar aufgelöst.

Die Unterscheidung zwischen Gut und Böse, zwischen richtig und falsch und zwischen schön und hässlich funktioniert nicht mehr. Bei den Hexen nicht und nicht bei den Protagonisten. Über dem ganzen Stück scheint ein Schleier der Mehrdeutigkeit und Unsicherheit zu liegen, der dem Scottish mist gleicht, diesem undurchsichtigen Gemisch aus Nieselregen und Nebel in den Highlands, der eine alles durchdringende Feuchtigkeit und Kälte erzeugt. Dieses feuchte Nebelgemisch lässt trügerische Gaukelbilder entstehen und täuscht die Wahrnehmung. In diesem Scottish mist spielt das Stück.
Doch das “fair is foul, and foul is fair”, das in unseren Ohren wie das Grundsatzprogramm für moralische Ambiguität klingt, wird von Macbeth mit seiner ersten Zeile im Stück noch übertroffen. Er unterstreicht mit dem Paradoxon „So foul and fair a day I have not seen“ nicht nur die ambige Atmosphäre der Szene, sondern zeigt auch, dass er fähig ist, das eigentlich Unmögliche zu denken, dass ein Tag foul und zugleich fair sein kann. Er ist in seinem Denken flexibel. Für ihn können ambige Situationen der Realität entsprechen, und er nimmt die Wahrsagungen der weird sisters, so unrealistisch sie für Außenstehende auch sein mögen, sofort für bare Münze.
Macbeth ist ein Grenzgänger an der Scheidelinie zwischen der alten und der neuen Weltsicht.
Macbeth ist ein Grenzgänger an der Scheidelinie zwischen der alten und der neuen Weltsicht. Aufgewachsen in der sicheren Gewissheit seiner Stellung und der Rolle als Thane of Glamis, erzogen als Kämpfer und Krieger und überlieferten moralischen Standards verpflichtet, nimmt er dennoch auch eine Welt jenseits der sichtbaren wahr. Hamlets Erkenntnis „There are more things in heaven and earth than are dreamt in our philosophy” gilt auch für ihn und macht ihn empfänglich für die Wahrsagungen der Hexen, die keinem moralischen Standard verpflichtet sind. Aber die Hexen sind Grotesken und unserer Phantasie entsprungen, sind „abenteuerliche Missgestalten“ und bizarr. Sie oszillieren zwischen der Realität und unserer Einbildung und unterscheiden nicht zwischen fair und foul, zwischen Gut und Böse.

Um die Einflüsterungen der Hexen wahr werden zu lassen, muss Macbeth die Komfortzone seines bisherigen Lebens verlassen. Er sieht sich zwischen den Verlockungen der neuen Möglichkeiten und dem Bekannten, dem Anerzogenen, gefangen: Er kann nicht länger ein treuer Vasall des Königs sein und sich zugleich selbst als König träumen; er kann nicht länger die vagen Aussagen der Hexen für möglich halten und zugleich seine gewohnte Realität als Thane leben. Macbeth spürt die Ambivalenz, die in den Worten der Hexen liegt, traut ihnen nicht und bezweifelt mit “cannot be ill, cannot be good” die moralische Unbedenklichkeit der Weissagung.
Es scheint sich also im Vergleich zu heute seit der Entstehungszeit von Macbeth nichts geändert zu haben.
Provoziert von seiner Frau, die seine Männlichkeit anzweifelt, vergisst Macbeth seine moralischen Standards, den Treueeid und die Regeln der Gastfreundschaft, und ermordet schließlich seinen König. Auch seine Frau gibt als Begründung für die Tat keinen anderen Grund zu erkennen als den, selbst im Mittelpunkt der Gesellschaft, im Glanz der Krone stehen zu wollen.
Es scheint sich also im Vergleich zu heute seit der Entstehungszeit von Macbeth nichts geändert zu haben. Alle Zivilisationsversuche der Gesellschaft, wie sie Norbert Elias (Über den Prozess der Zivilisation, 1939) beschrieben hat, scheinen vergebens gewesen zu sein. Damals wie heute gilt die vom englischen Staatstheoretiker Thomas Hobbes geprägte Sentenz „homo homini lupus“ („Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“).

Im Laufe des Dramas verliert Macbeth jedoch sein Gespür dafür, dass die Dinge nicht immer so sind, wie sie zu sein scheinen. Er beginnt, eindimensional zu denken und schlägt, wenn er seine Stellung als König angezweifelt wähnt, wild um sich wie die Bären, die in den bear baiting theatres rund ums Globe gereizt wurden. Er lässt Banquo und die Familie Macduffs ermorden und regiert sein Land mit Willkür und Gewalt. Aber er gewinnt nichts: Fleance, der zukünftige König, entkommt ebenso wie Macduff, der ihn am Ende töten wird. Seine Männlichkeit, von Lady Macbeth provoziert, zeigt sich nur noch in Gewalttätigkeiten, seine Macht nur noch in Morden, sein Einfluss nur noch im Anwerben von Meuchelmördern.
Männer, und es sind immer nur Männer, folgen allzu leicht diesem Schema. Auch heute ist die Welt voller Menschen, die wie Macbeth dubiosen Machtträumen nachlaufen und sich dafür ihren eigenen Moralkodex zurechtlegen, sich dabei aber, einseitig denkend, verrechnen wie der Farmer, den der Porter erwähnt. Sie alle verirren sich in der ambigen Realität des Scottish mist. Der Gedanke, die Krone zu tragen, der Fürst zu sein, Einfluss zu haben und von allen bewundert zu werden, ist, damals wie heute, zu verlockend, um widerstehen zu können – und die Gefahr zu scheitern ist so groß wie jeher, denn die Welt ist nicht eindeutig.
Seine Männlichkeit zeigt sich nur noch in Gewalttätigkeiten, seine Macht nur noch in Morden, sein Einfluss nur noch im Anwerben von Meuchelmördern.
Der gebildete Mensch der Frühen Neuzeit konnte in Montaignes Essays lesen, dass selbst auf dem höchsten Thron der Fürst letztlich nur auf seinem Hintern sitzt. Und dem Theatergänger war die Metapher von Fortuna’s Wheel, das den Aufstieg und Fall bedeutender Personen beschreibt, wohl vertraut. Albrecht Dürer schuf mit seiner Illustration für Sebastians Brants Das Narrenschiff (1496) eine Darstellung des „Glücksrades“, in der er das Rad nicht mit „großen“ Herren, sondern mit Eseln bestückte. Damit traf er den tieferen Sinn dieser Metapher unübertrefflich genau und auch für den letzten Zweifler eindeutig verständlich.

Macbeth zieht mit seinem Monolog „To-morrow, and to-morrow, and to-morrow, …“ ein bitteres Resümee seines Lebens, das zu einem resignierenden Eingeständnis seines Scheiterns wird. Die Ambivalenz der Weissagungen und dass er auf das falsche Pferd setzte, als er den Hexen Glauben schenkte, begreift er aber erst, als auch der letzte Strohhalm verloren geht, als der Wald von Birnham sich zu bewegen beginnt.
Foto (c) David Heuberg
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