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lauter nette familien: familienbande und andere zügel

Von Lydia Preusch

„It never comes out. They have me in chains.“

I n seinem Stück Equus entfesselt Peter Shaffer eineDebatte über gesellschaftliche Zwänge, die innerhalb der Familienkonstellation Vater-Mutter-Kind, eindrucksvoll, intensiv und verstörend dargestellt werden. Die Mischung aus Religion, Sex und Gewalt wirft Fragen nach einer individuellen Identität auf, die von der elterlichen Fürsorge und der Gesellschaft gezügelt und gelenkt wird.

Die Situation des Stücks ist leicht erkennbar, mit Alan, einem unangepassten Teenager, dem als Ausweg von der Bestrafung für sein Handeln – dem Herausstechen der Augen von Pferden im Stall, in dem er arbeitet – nur eine Therapie bleibt. Während der Therapie mit Martin Dysart werden Alans Schutzmauern Stück für Stück eingerissen und die konfliktreiche, komplexe Familiendynamik entblößt. Equus beschäftigt sich weniger mit der vermeintlichen psychischen Erkrankung Alans, als vielmehr mit seiner Identität innerhalb einer heteronormativen, religiös beeinflussten Umgebung, deren Grenzen er überschreitet.

Equus beschäftigt sich weniger mit der vermeintlichen psychischen Erkrankung Alans, als vielmehr mit seiner Identität innerhalb einer heteronormativen, religiös beeinflussten Umgebung, deren Grenzen er überschreitet.

Alan befindet sich an der Schwelle zum Erwachsenendasein und versucht, sich den Normen und Maßregelungen seiner Eltern zu entziehen und seine Zügel abzustreifen, indem er seiner Identität in Form einer selbsterdachten und -ermächtigenden Religion Ausdruck verleiht. Das Wie des Gewaltaktes an den Pferden spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Durch das ganze Stück hindurch ist vielmehr das Warum ausschlaggebend. Welche Rolle nehmen dabei seine Eltern ein, die ihm durch ihre eigenen Wertvorstellungen das Gefühl für Scham und Schuld beibrachten? Die Frage der Verantwortung und der Schuldzuweisung bleibt durch das Stück hinweg bestehen.

Alans enge Bindung als Kind zu seiner Mutter ist geprägt von ihrer Fürsorge, aber auch von ihrer religiösen Einstellung zu Sitte und Anstand, zu Heiligen und Sündern und zu Schuld und Sühne. Alans Mutter Dora, die bibeltreue Lehrerin, deren Verhalten an Fanatismus grenzt, versucht ihren Sohn, vermeintlich moralisch unbedenklich, über Geschichten aus der Bibel zu erziehen und zu zügeln. Alan ist gleichzeitig fasziniert von den Geschichten und eingeengt von den Moralvorstellungen seiner Mutter, die versucht, ihn in ihrer Weltanschauung als den sensiblen, lieben Sohn zu platzieren. Besonders angezogen wird Alan von den Geschichten über die himmlischen Reiter, die von den heidnischen Bewohnern der Erde als eine Identität wahrgenommen werden und von der Geschichte des Pferdes Prince, das sich nur von seinem „young master“ reiten lässt. In beiden Geschichten, ist die Einheit zwischen Reiter und Ross von Harmonie, Symbiose und mit an sexuell angrenzender Intimität das zentrale Element. Der Fall des Reiters vom Pferd symbolisiert den Kontrollverlust, den Alan innerhalb seiner Familie und der Gesellschaft erfährt, die ihn in seinem Teenager-Dasein bevormunden.

Dora versucht ihren Sohn, vermeintlich moralisch unbedenklich, über Geschichten aus der Bibel zu erziehen und zu zügeln.

„God sees you, Alan! He’s got eyes everywhere – always.“ Mit ihren Geschichten und biblischen Aussagen mahnt Dora Alan, sich an den biblischen Verhaltenskodex zu halten und seine moralische Integrität zu wahren. Getreu dem Motto „Big Brother is watching you!“ möchte sie Alan verdeutlichen, dass es eine wachende, aber auch eine überwachende Instanz gibt, die ihn beobachtet, aber auch richtet. Alan hingegen entwickelt seine eigene Religion rund um die Pferdegottheit Equus, die ihn beobachtet und sieht, selbst wenn er seine eigentliche Identität und sein Handeln den Blicken der Gesellschaft und seiner Eltern entzieht.

Alans vermeintliche Gräueltat entfremdet ihn für Dora, die nun nicht mehr ihren Sohn innerhalb ihres Weltgefüges (ein)zäumen kann. Sie versucht, sich selbst wegen der Mutterliebe, die sie Alan zuteilwerden ließ, zu entschuldigen und sieht ihn nun als vom Teufel verführt. „You know the Devil isn’t made by what mummy says and daddy says.“

„An innocent man tortured to death, thorns driven into his head, nails into his hands, a spear jammed through his ribs. It can mark anyone for life.“ Dora, die ihre Perspektive und gesellschaftskonformen Ansichten durch Geschichten implizit an Alan vermittelt, steht im Kontrast zu ihrem Mann, Frank. Dieser versucht Alan explizit zu zügeln und zu maßregeln. Als selbstinszenierter, rationaler Patriarch hat es sich Frank zu Aufgabe gemacht, Alan zu kontrollieren und in dessen Identität einzudringen. Er fühlt sich als Atheist vom religiösen und emotionalen Band zwischen Dora und Alan ausgegrenzt, lässt aber beide gewähren. Hierbei gibt er vor allem Dora und ihrer vermeintlich weiblichen Nachgiebigkeit und ihrem religiösem Fanatismus die Schuld an Alans Verhalten, das nicht den gesellschaftlichen Normen entspricht.

Blind gegenüber seiner eigenen Passivität in der positiven Vermittlung von Werten, ist es Frank, der Alan bei seinen sexuellen Erfahrungen ertappt, (ver)stört und sie beendet. Frank unterbindet und zerstört damit, Alans erste an Homo-Erotik grenzende Erfahrung mit einem Reiter, der ihn auf einem Pferd mitnimmt. Alan verspürt ein Gefühl von Freiheit und Macht, welches ihm im Alltag eines Kindes nicht zuteil wird, bis Frank ihn vom Pferd zieht und dem zügellosen Treiben ein Ende setzt.

Als selbstinszenierter, rationaler Patriarch hat es sich Frank zu Aufgabe gemacht, Alan zu kontrollieren und in dessen Identität einzudringen.

Dieses Eingreifen in Alans Identität und das Unterbinden seines Verlangens führt dazu, dass Alan nicht mehr in der Öffentlichkeit reitet. Denn wenn er reitet, dann soll es machtvoll und ungezügelt sein. Eine Begegnung im Kino bei der Vorstellung eines sexuell aufgeladenen Films lässt Alan und Frank das erste Mal einander wirklich sehen. Sie erkennen den Mann und die Begierde in der Identität des anderen. Alan erkennt, dass Frank ebenfalls ein unerfülltes Verlangen hat, das er vor der Gesellschaft und seiner eigenen Familie, die ein Spiegelbild der Gesellschaft ist, zu verbergen versucht. Durch diese Gemeinsamkeit verspürt Alan auf gewisse Weise eine Nähe zu seinem Vater, der in diesem Augenblick selbst den Kontrollverlust und die Scham fühlt, die er Alan in der Vergangenheit zugefügt hat.

„It never comes out. They have me in chains“ ist die Antwort Trojans auf Alans Frage, ob die Zügel ihn schmerzen. Trojan ist Alans erste Begegnung mit einem Pferd außerhalb seiner gedanklichen Welt in seiner Kindheit, bevor Frank diese Begegnung unterbindet. Pferde und deren Stimmen, die Alan sich in der Lage glaubt zu verstehen, sind für ihn ein Weg, seine eigene Identität zu äußern und dem normativen, elterlichem Regelwerk in der Metapher des angelegten Zaumzeugs Ausdruck zu verleihen. Zusätzlich identifiziert sich Alan mit den machtvollen und majestätischen Bewegungen der Pferde, die er mit Freiheit und Selbstermächtigung assoziiert.

Die Verletzlichkeit und Freiheit Alans lädt das Publikum ein, sich mit ihm und seinem Kampf mit den sozialen Konventionen zu identifizieren.

Seine heimlichen nächtlichen Ritte auf den Pferden des Hofes, für den er arbeitet, sind geprägt von seinem Wunsch, sich gesellschaftlichen Zwängen und Ansichten zu entziehen und eine selbstbestimmte Identität zu erleben. Eine Identität, die ihm seine Eltern nicht zugestehen können, da sie selbst Gefangene gesellschaftlicher Zwänge sind, die ihnen das heteronormative Rollenbild von Mutter und Vater als emotionale und rationale Moralinstanzen aufzwingt.

Alans Nacktheit bei seinen Ausritten wird erst gegen Ende des Stücks aufgedeckt, was dem Bild der eingerissenen Schutzmauern, die den gesellschaftlichen Blick abwehren, Nachdruck verleiht. Er reitet auf der Bühne nicht nur körperlich, sondern auch seelisch entblößt, befreit von den Moralvorstellungen und der auferlegten Weltanschauung seiner Eltern. Das Publikum sieht Alan, wie er wirklich ist und wie er sich selbst definiert. Die Verletzlichkeit und Freiheit Alans lädt das Publikum ein, sich mit ihm und seinem Kampf mit den sozialen Konventionen zu identifizieren. Alans Darstellung bietet die Möglichkeit, eigene versteckte Begierden neu zu betrachten und familiäre Strukturen, die eingebettet und bestimmt von gesellschaftlichen Normen sind, zu erkennen.

Equus ist eine Auflehnung gegen stereotypisierende Narrative, in denen Identitäten nur vermeintlich kohärent und moralisch intakt sind. Dabei bleibt die Frage der Schuld, Moral und Sühne ebenso unbeantwortet wie die Frage der eigenen Identität in Abgrenzung zu gesellschaftlichen Zwängen.

Foto (c) David Heuberg

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