Ein Statement aus dem Kreativteam
Von Steven Armin Novak
Das Pferd. Ein vierbeiniges Wesen, das dem Menschen seit Jahrtausenden als Freund, Beförderungsmittel, als Ressource oder Sportgerät dient. Wir kennen es aus den Märchen unserer Kindheit, aus Filmen aller Art oder der griechischen Mythologie, in welcher es mit Flügeln versehen den Göttern zur Seite steht und Pegasus genannt wird. Allerdings assoziieren wir mit diesem Tier nicht nur das Prachtvolle in der Welt, wie das majestätisch auftretende weiße Ross eines Kaisers, sondern auch das genaue Gegenteil: den dreckigen Gaul des Bauern. Kann die menschliche Faszination und Liebe für diese Tiere zur Abhängigkeit werden? Wie weit kann unsere Faszination für etwas reichen? Wann sollten wir sie als Obsession bezeichnen und wie erkennen wir sie als solche?
Die fortschreitende Debatte über das grundlegend Wahre oder Falsche wird so lange andauern, solange der Mensch die Fähigkeit besitzt, zu denken. Das moralische Abwägen ist ein täglicher Prozess, dem wir unmöglich entkommen können. Mit jedem Handgriff, jedem Schritt, jedem geformten Satz treffen wir eine Entscheidung, die Konsequenzen mit sich bringt. Gewiss herrscht eine Art Einigkeit darüber, was normativ falsch und wahr zu bezeichnen ist. Aber sollten wir diesen Normen so einfach Glauben schenken, ohne sie auch nur einmal hinterfragt zu haben?

Oft halten wir am Gewohnten fest, um in einem von Menschenhand erschaffenen System aus Rastern fortleben zu können. Können wir daraus ausbrechen und so zu einer anderen Wahrheit gelangen? Dass der zurzeit herrschende Krieg in der Ukraine etwas an sich Tragisches darstellt, ist für viele Menschen offensichtlich. Warum der Teenager aus dem Nachbarhaus allerdings seine Eltern auf brutale Art und Weise ermordet, bleibt erst einmal ein Mysterium. Offenbart sich hier nun eine Wahrheit oder bloß ein Unwissen, Unwohlsein oder Unbehagen gegenüber allem, was wir nicht mit bloßem Auge erkennen konnten?
Mit jedem Handgriff, jedem Schritt, jedem geformten Satz treffen wir eine Entscheidung,
Wie tief aber können wir wirklich hineinsehen und einen einzelnen Menschen so aus seiner Essenz heraus verstehen? Genau diesen Fragen stellt sich der in einer eigenen Lebenskrise befindende Psychiater Martin Dysart angesichts seines 17-jährigen Patienten Alan Strang. Als Erzähler rekonstruiert er die Sitzungen, die ihm nach und nach die Hintergründe des Teenagers offenbaren. An sich stellt Alans pathologische Faszination für Pferde kein Problem dar. Sie bildet aber den Grund für seinen Aufenthalt in der Psychiatrie: In einem Reitstall, in dem er beschäftigt war, stach er sechs Pferden die Augen aus. Nach und nach öffnet sich der Junge seinem Psychiater und zum Vorschein kommen eine tragische Familiengeschichte, tiefliegende Ängste und die phantasievolle (oder wahnhafte?) Idee von einem Pferdegott namens Equus, der Alans Alltag bestimmt und seinen Geist beherrscht.

Die ursprüngliche Inszenierungsidee sah vor, das Publikum auf der Bühne zu platzieren. Durch die räumliche Nähe wäre die vierte Wand durchbrochen und die Bühnensituation intim, nah und körperlich gewesen. Gleichzeitig wäre den Darstellenden im Gegenzug das Gefühl einer allgegenwärtigen Bedrängnis durch die Nähe zum Publikum vermittelt worden, die sich auf ihr Spiel ausgewirkt hätte. Aus choreografischer Sicht hätte man hier einige platztechnische Abstriche in Kauf nehmen müssen. Aufgrund äußerer Umstände musste das Konzept umgestellt werden. Die Beklemmung und Enge wird nun durch eine Begrenzung der Bühne erreicht. Der Zuschauer wird vor ein minimalistisches Bühnenbild gesetzt, welches genug Spielraum für die Interpretation lässt. Das reduzierte Bühnenbild verläuft zwischen christlich geprägtem Gotteshaus und Reitstall (Dysart: „What is the stable. His temple? His Holy of Holies?“).
Das reduzierte Bühnenbild verläuft zwischen christlich geprägtem Gotteshaus und Reitstall.
Eine Leinwand erlaubt das Spiel mit Licht und Schatten zur Verwischung dieser Grenzen. Wird so die Sicht auf die Geschehnisse nun schärfer, die Dinge erklärbarer, oder ist nichts mehr zu erkennen? Die sexuell konnotierten Fetischelemente im Kostüm spielen auf die Allgegenwärtigkeit des Pferdegottes Equus an und heben zugleich den voyeuristischen Charakter des Stücks hervor. Im Zentrum des Geschehens stehen die beiden Hauptcharaktere Dysart und Alan, deren Beziehung sich in engen Kurven windet und Fragen nach Kontrolle oder Verständnis stellt.
Neben den beiden Protagonisten befindet sich ein mehrköpfiger Chorus auf der Bühne, der im Rotationssytem sämtliche Nebenrollen verkörpert, seien sie “pferdischer” oder menschlicher Natur. Die Nebencharaktere bleiben gewollt blass, sind Stereotype und Versionen eines Umfeldes, das auch die beiden Hauptcharaktere, Alan and Dysart so beeinflusst und geprägt haben könnte. Der Chorus ist zugleich vieläugiger Beobachter, Kommentator sowie projektive Manifestation von Phantasien. Er oszilliert somit zum einen zwischen Publikum und Bühnengeschehen, zum anderen zwischen Illusion und (Bühnen)-Realität. Durch das Spiel von Schatten und Licht, von Rhythmus und Bewegung entsteht ein Hintergrundrauschen, ein visuell-akustischer Klangteppich. Dieser prägt das Stück und kreiert eine Atmosphäre, die abermals changiert – zwischen Exponierung und Verhüllung.

Gefangen in seiner eigenen Realität erlebt der junge Alan in seinen Therapiesitzungen Flashbacks in die Tiefen seines Unterbewusstseins und durchlebt Erinnerungen, die bisher wie hinter Stahltüren verschlossen lagen. Für seinen Psychiater Dysart bedeuten die Einblicke in Alans verborgene Gedankenwelt eine Reise in ein Labyrinth voller zwischenmenschlicher Barrieren, die der Junge im Laufe seines Heranwachsens aufbaute.
Das Publikum taucht ein in eine Welt, für die wir nur das Wort ‚Obsession’ haben.
Warum faszinieren ihn Pferde so sehr und wann und warum wurde daraus eine pathologische Obsession? Was oder wer ist das göttliche Geschöpf Equus? Für die choreografische Umsetzung lag das Ziel darin, diese Illusion erkennbar und für den Zuschauer durch Bewegung und hörbare Rhythmuselemente abstrakt darzustellen.
Das Zusammenspiel zwischen Regie und Choreografie ist für das Stück unabdingbar. Beides muss vollwertig aufeinander abgestimmt sein, da sie die Grenze zwischen Illusion und Wirklichkeit permanent markieren, aufheben und in Bewegung halten. Die Spielebenen überlagern sich und das Publikum taucht ein in eine Welt, für die wir nur das Wort ‚Obsession’ haben.

Es wurde sich bewusst dafür entschieden, nicht zu konkret in der Darstellung zu werden. Das Ensemble stellt die Nebencharaktere sowie Alans Gedanken in visueller Gestalt dar und steht durch das Kostümbild für einen allgegenwärtigen Equus. Ebenso charakterisiert es eine stetige Unruhe, ein undefiniertes Chaos, welches sich in Alans emotionaler Welt mehr und mehr aufbaut.
Das Ensemble knüpft einen roten Klangfaden, der den Pferdegott Equus mal mehr, mal weniger subtil zum Leben erweckt.
Die Inszenierung arbeitet ohne musikalische Einspieler, das Ensemble knüpft selbst einen roten Klangfaden, der durch das Stück begleitet und den Pferdegott Equus mal mehr, mal weniger subtil zum Leben erweckt. Ebenso erzeugt ein choreografisch-akustisches Bild die Gangarten eines Pferdes, welches im nächsten Schritt das Auseinandersetzen mit der animalischen Körperlichkeit der Vierbeiner voraussetzt.
Die moderne Inszenierung erschwert dem Publikum die Unterscheidung zwischen der Realität und der Gedankenwelt Alans, sodass der Illusionsbruch unbewusst gelingt und man sich immer wieder fragen muss wo wir uns gerade befinden. Ist Equus eine von Alan geschaffene Projektion seiner Angst oder aber ein Schutzschild. Ist er ein Alter Ego Alans? Ich selbst muss gestehen, dass ich, obwohl ich nun mehrere Monate an diesem Stück arbeite, mich noch immer nicht entscheiden kann. Genau dieser Aspekt hat mich an Peter Shaffers Werk von Beginn an gepackt, und ich denke, dass es den Zusehenden genauso ergehen wird.

Foto (c) David Heuberg
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