Von Günter Daubenmerkl
Die Welt ist bunt. Im Frühsommer sowieso, wenn endlich das uniforme Dunkelgrau der Natur und der Kleidung weicht. Aber auch ansonsten leben wir in einer Zeit der Vielfalt. Jeder kann, wenn er will, hunderte TV-Programme empfangen, Meinungen teilen und sich eine Welt schaffen, wie es ihm gefällt. Pippi Langstrumpfs „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt“ ist für alle, die es wagen, zur Option geworden.
Sich eine Welt nach dem eigenen Gusto zu schaffen, klingt verführerisch. Aber wie kann eine solche Welt funktionieren? Wie soll sie sich von anderen al gusto Welten abgrenzen? Und vor allem, wie kann der Rest der Welt die Vielfalt der individuellen Welten ertragen?

Je nach unseren eigenen Erfahrungen interpretieren wir die sich ständig verändernde bunte Welt uneindeutig. Denn unsere Welt ist uneindeutig, wie der Philosoph Thomas Bauer in einem Essay feststellt: Unsere Eindrücke lassen unterschiedliche Interpretationen zu, die „unklar erscheinen, keinen eindeutigen Sinn ergeben, sich zu widersprechen scheinen, widersprüchliche Gefühle auslösen, widersprüchliche Handlungen nahezulegen scheinen. Kurz: Die Welt ist voll von Ambiguität.“
Je nach unseren eigenen Erfahrungen interpretieren wir die sich ständig verändernde bunte Welt uneindeutig.
Entgegen den unzählbaren Möglichkeiten, die uns die bunte Welt bietet, leben wir aber in einer Zeit, die Eindeutigkeiten bevorzugt und versucht, Ambiguitäten weitmöglich im öffentlichen Diskurs zu vermeiden. Denn ohne, zumindest vermeintliche, Eindeutigkeiten kann unsere Gesellschaft nicht funktionieren: Eine Kommunikation wäre nicht möglich, Gesetze könnten nicht erlassen werden, Verträge nicht formuliert. Trotzdem sind viele Bereiche unseres Lebens grundlegend uneindeutig. Religion und Kunst stehen hier an erster Stelle, aber auch das Recht, Politik und die Diplomatie enthalten in ihren Schriftsätzen reichlich viel Ambiguität, die den Juristen oder Diplomaten die Grundlage für ihre Tätigkeit gibt.
Es reicht nicht, die Fahne mit den fünf farbigen olympischen Ringen, die Flaggen der UNO und der EU oder die Regenbogenfahne zu hissen, um sich inmitten Gleichgesinnter, die alle die gleichen Ziele haben, geborgen zu fühlen. Wir können versuchen, alle Unterschiede zwischen den unter den Flaggen versammelten Menschen zu vergessen. Doch ganz im Gegensatz zu unserem Wunschdenken werden wir feststellen, dass die Diversität der ethnischen Herkunft unserer Nachbarn und die Vielfalt ihrer Lebensentwürfe und Lebenserfahrungen nur eine vielfältige Gesellschaft zur Folge haben können.

Wir müssen also, ob wir wollen oder nicht, mit einer uneindeutigen Welt zurechtkommen. Unser Ziel kann deshalb nicht die Abschaffung der Ambiguität aus unserer Welt – das würden wir sowieso nicht schaffen – sondern nur die Zähmung der latent vorhandenen Ambiguität in ein erträgliches Maß sein.
Auch das Recht, Politik und die Diplomatie enthalten in ihren Schriftsätzen reichlich viel Ambiguität, die den Juristen oder Diplomaten die Grundlage für ihre Tätigkeit gibt.
Das Zurückdrängen eines uneindeutigen Naturzustandes, der des Chaos, scheint von je her das Bestreben der Menschheit gewesen zu sein. Die Schöpfungsmythen der meisten Kulturen beginnen damit, dass ein chaotischer Naturzustand von einer Urkraft geordnet wird. So lesen wir in der Bibel, dass am Anfang die Erde wüst und leer war und erst Gott aus dem Chaos eine Welt erschuf, die Leben ermöglichte. Die germanischen Schöpfungsmythen lassen den Urgott Ymir die Welt aus dem Chaos schaffen, und auch bei Homer erschafft die Urgöttin Eurynome die Welt und den Götterhimmel aus dem Chaos.

Als sich später, wie wir bei Homer und Ovid lesen, die Titanen, also Naturgottheiten, gegen das olympische Göttergeschlecht auflehnten, wurden sie von Zeus besiegt. Die Olympier versuchten alsbald die Mehrdeutigkeit und Unordnung der Naturzustände zu ordnen und sorgten sich um Familie (Hera), Ackerbau (Demeter) und Handwerk (Hephaistos); sie schufen so die Grundlagen für eine Ordnung in der menschlichen Gesellschaft.
Doch der permanente Schwerenöter Zeus hielt sich selbst nicht an die neue Ordnung und zeugte mit Semele, einer Nachkommin der Titanen und eine Naturgöttin, den Dionysos. Von seiner Mutter mit genug „Chaos-Genen“ ausgestattet, veranstaltete er orgiastische Feste und zog als Erfinder des Weinanbaus mit einem dauertrunkenen Gefolge von Satyrn und Bacchantinnen übers Land. Damit stellte er das Gegenteil zu seinem Halbbruders Apollon dar, der als Erfinder der Künste gilt.
Die Schöpfungsmythen der meisten Kulturen beginnen damit, dass ein chaotischer Naturzustand von einer Urkraft geordnet wird.
Aristoteles bezeichnet die Kunst mit téchne (τέχνη), ein Begriff, der ursprünglich Kunst, Wissenschaft und Technik umfasste, also jede Art von vorausplanender menschlicher Tätigkeit. Eine Quelle der Kunst lag für ihn in der Nachahmung (mímesis, μίμησις) der Natur und der Menschen. Seitdem streiten in der Kunst das apollinische und das dionysischem Prinzip um die Vorherrschaft, stehen Klarheit, Planung und Schönheit, also das Gewollte und Eindeutige dem Ursprünglichen und dem Orgiastischen, dem Mehrdeutigen gegenüber.

Bis weit ins 16. Jahrhundert galt der Maler, Bildhauer und Schauspieler als ein Handwerker, während der Schöpfungsakt allein Gott zugestanden blieb. Wenn in der ausgehenden Renaissance Maler wie Giulio Romano als „göttlich“ bezeichnet wurden, dann nur, weil sie, wie es Leonardo in seinem Trattato della Pittura ausdrückte, in der Nachahmung der Natur ihren Schöpfer nachahmten. Allerdings wurde bereits 1561 der Dichtung (Julius C. Scaliger, Poetik) zugestanden, dass sie erschaffe (condere), während die anderen Künste nur nacherzählten (narrare). Nur der Dichter könne wie Gott vor der Erschaffung der Welt aus einer Vielzahl von Möglichkeiten neue Welten erschaffen. Dadurch wurde aber die Idee von einer eindeutigen Welt unterlaufen und der Mehrdeutigkeit, der Ambiguität, Tür und Tor geöffnet.
Ein Engländer, der im 19. Jahrhundert aus den Kolonien nach London zurückkehrte, äußerte sich verwundert über die fehlende Vielfalt in seinem Vaterland. Während der Orient ein buntes Gemisch aus Ländern, Völkern, Religionen und Gebräuchen sei, schien ihm die englische Gesellschaft erstarrt zu sein in einer Vielzahl von Regeln und Vorschriften, die versuchten, Eindeutigkeit herzustellen und ambige Situationen zu vermeiden. Die Menschen schienen in Schubladen gesteckt zu sein, um das Königreich, angefangen von seiner obersten Repräsentantin, Queen Victoria, bis hinunter zum Werftarbeiter in seiner Position zu fixieren.
Auch heute ist es noch verwunderlich, wie sehr die englische Gesellschaft in Klassen aufgeteilt ist, die sich durch Bildung, Umgang und Gebräuche, sogar durch ihr Idiom voneinander abzugrenzen bemühen. Wenn man einem Engländer vorgestellt wird, dauert es nie lange, bis „What are you doing for money?“ auftaucht, um die vorgestellte Person einordnen zu können.

In der sich selbst als „älteste Demokratie der Welt“ bezeichnenden Nation ist das Staatsoberhaupt schon auf Generationen im Voraus bekannt, bei Wahlen gilt „the winner gets all“, und beim englischen Nationalspiel, dem Cricket, ist ein Unentschieden fast nicht möglich. Nur keine Überraschungen, keine unabwägbaren Koalitionen, keine Uneindeutigkeiten. Und bitte keine Spontaneität. Engländer ertragen alle letztlich selbst verursachten Unannehmlichkeiten ohne mit der Wimper zu zucken mit einer stiff upper lip.
Jede zu starke Einschränkung der Vieldeutigkeit führt jedoch zur Polarisation, deren Probleme oft scheinbar am leichtesten nur mit Gewalt zu lösen sind.
Apollon scheint in England auf der ganzen Linie gewonnen zu haben. Doch dann sind da die regelmäßigen dionysischen Eruptionen in der glatten apollinischen Künstlichkeit, die bei unseren Freunden auf der Insel beobachtet werden können: Vor vielen Jahren die 30 wilden Jahre der Dramatiker der Shakespearezeit, vor 200 Jahren die Maler um William Turner und in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts die Künstler um Francis Bacon. Und nicht zu vergessen sind die im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts für Furore sorgenden Dramatiker des In-Yer-Face Theaters um Caryl Churchill und Mark Ravenhill. Aber zwischen diesen wenigen Ausbrüchen herrschte – und herrscht heute wieder – die farblose Ruhe einer die Ambiguität der Phantasie verachtenden Gesellschaft.
Jede zu starke Einschränkung der Vieldeutigkeit führt jedoch zur Polarisation, deren Probleme oft scheinbar am leichtesten nur mit Gewalt zu lösen sind. Auch der junge und unsichere Alan, der von seinen Eltern in eindeutigen Denk-Schemata erzogen wurde und nie gelernt hat, ambige Situationen zu ertragen, gerät in diese Falle und blendet die Pferde, als er die ambige Situation, in die er durch Jills Verführungsversuch geraten war, nicht lösen kann. Die Tat kann als ein Bacchanal, ein Opferritual für Dionysos verstanden werden. Alans Therapeut aber richtet sich stattdessen mit seinem Zynismus in der apollinische Künstlichkeit einer nur noch formal bestehenden Ehe ein.
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