Ein neuer Blick auf alte Themen
Von Gesche Küper
Niemand spricht von Eurydice. Sie ist fast unsichtbar. In den Überlieferungen des Orpheus-Mythos durch Vergil und Ovid und in ihren Quellen scheint die Figur der Eurydice nur vorhanden zu sein, um Orpheus als agens movens für seine Fahrt in die Unterwelt zu dienen. Sie ist der Anlass, um zu zeigen, dass die Macht seiner Musik selbst den Tod überwinden kann und schließlich sogar Proserpina und Pluto, die Götter der Unterwelt, rührt. Danach konnte Orpheus endgültig als der größte Sänger und Lautenspieler des Altertums dargestellt werden.

Eurydike bleibt ein Wunschbild, das, wie Vergil schreibt, wie Rauch in den Wolken verweht.
Alles dreht sich um Orpheus; Eurydice ist nur das stumme Objekt seiner Lieder. Das ist so bei Vergil und auch bei Ovid – und bis in die jüngste Zeit bei allen Nachdichtern des antiken Mythos. In der ersten neuzeitlichen Nachdichtung des Mythos, in La Fabula di Orpheo, die der Italiener Angelo Poliziano um 1480 schrieb, bekommt Eurydice im gesamten Stück, das etwa eine Stunde dauert, gerade einmal sechs Zeilen zugestanden. Ihr ist gestattet, nachdem sich Orpheus auf dem Rückweg aus dem Orcus nach ihr umgeblickt hatte, voller Schmerz auszurufen: „Oimè, che troppo amore n’ha disfatti ambendua … Orpheo mie, vale“, dass zuviel Liebe das Paar auseinandergerissen habe.
Auch Claudio Monteverdis L’Orfeo, ein dramma per musica, das 1607 in Mantua erstmals aufgeführt wurde und mit seinen Rezitativen und Arien als eine der frühesten Opern gilt, bietet der Figur der Eurydice kaum mehr Raum: Sie bekommt an zwei Stellen je sechs Zeilen zugeteilt. Christoph Willibald Gluck entfernt sich mit der Handlung seiner Oper Orfeo ed Eurydice (1762) vom antiken Mythos, lässt Amor siegen und gibt seiner Oper ein Happy End – und Eurydice zumindest im letzten Akt die Gelegenheit, ein Duett, eine Arie und im großen Finale zu singen. Aber davon abgesehen bleibt Eurydice stumm.
Und so geht es weiter in der Literatur-, Musik- und Kunstgeschichte, die von Männern dominiert wird: Eurydice bleibt eine Randfigur. Sie bleibt die stumme Nymphe, deren Schönheit von allen bewundert wird und deren Verlust Orpheus in alle Welt hinausruft, während sie selbst für die Autoren, Komponisten und Maler nur ein Idol zu sein scheint, ein Wunschbild, das, wie Vergil schreibt, wie Rauch in den Wolken verweht.
Orpheus scheint immer eigene Ziele zu verfolgen und Eurydice gleichsam hinter sich her zu zerren.

Seit jenem, um 420 v.Chr. geschaffenen attischen Relief, das den Moment zeigt, als Orpheus sich nach Eurydice umblickt und Hermes ihre Hand erfasst, um sie in die Unterwelt zurückzubegleiten, war in der Bildenden Kunst der Orpheus-Mythos immer wieder Gegenstand der Darstellung; Orpheus als Verkörperung des Künstlers per se war ein zu verlockendes Sujet. Orpheus taucht auf griechischen Vasen auf und auf römischen Reliefs und Mosaiken – und immer ohne Eurydice.
Das änderte sich erst in der Neuzeit. Peter Vischers Bronzerelief (um 1520) bildete den Moment ab, als Orpheus sich zu Eurydice umdreht und sie sich wieder dem Hades zuwendet, während spätere Darstellungen unterschiedliche Episoden aus dem Mythos zeigen: Um 1637 malte Peter-Paul Rubens Orpheus und Eurydice vor Pluto, zu dem Eurydice sich lüstern umblickt; Nicolas Poussin zeigte 1650 das Paar in einer bukolischen Landschaft inmitten von Hirten und Tieren; 1861 stellte Jean-Baptiste Corot Orpheus mit Eurydice auf dem Rückweg durch eine nebelverhangene Unterwelt dar. Aber keines dieser Darstellungen zeigt das Paar sich einander zugewandt; Orpheus scheint immer eigene Ziele zu verfolgen und Eurydice gleichsam hinter sich her zu zerren.
Bei allen Darstellungen des Orpheus bleibt die Figur der Eurydice immer nur das Abbild des Frauenbildes der Zeit, in der sie jeweils geschaffen wurde.

Aber die Blicke, die auf die Figur des Orpheus gerichtet sind, werden mit der Zeit kritischer. Orpheus wird aus dem Götterhimmel auf die Erde zurückgeholt. Er wird wieder zum Menschen; zum verelendeten Straßenmusikanten bei Yvan Goll (1918), zum zweifelnden (Hermann Broch, 1945) oder resignierenden Künstler (Adonis, 1968), oder er wird zum KZ-Opfer wie bei Edward Bond (1979). Oder er wird verspottet wie in Jacques Offenbachs Travestie Orpheus in der Unterwelt (1858), die den Orpheus-Mythos persifliert. In ihr unterstellt Offenbach dem Orpheus, dass er nur von der öffentlichen Meinung getrieben in der Unterwelt nach Eurydice sucht, die mit Aristaeus, der in Wahrheit Pluto ist, fremdgeht. Jean Anouilh hingegen zeigt in Eurydice (1942) Orpheus als einen heruntergekommenen Kaffeehausgeiger, der an Eurydices promiskuitiver Vergangenheit zerbricht.
Bei allen Darstellungen des Orpheus bleibt die Figur der Eurydice immer nur das Abbild des Frauenbildes der Zeit, in der sie jeweils geschaffen wurde. So ist uns durch die Jahrhunderte oft nur ein stummes Bild jener Frau erhalten geblieben, für die Orpheus einst durch die Hölle ging. Sie wird uns als ein schmückendes Accessoire für den Künstler, vielleicht sogar als seine Muse überliefert, aber dann doch nur als eine für sein Künstlertum letztendlich unwichtige und manchmal auch störende Person.
Das sollte sich erst in der Jetztzeit ändern. „Orpheus und … Eurydike möchten wir fortfahren, weil wir es so gewöhnt sind. Doch wie ich es erst jetzt erfahren mußte, ist diese Geschichte niemals ganz richtig erzählt worden …“ schreibt 1948 Hans Erich Nossack. Heute wird die Geschichte von Orpheus und Eurydice anders erzählt. Es werden, wie Lisa Tuttle schreibt, „neue Fragen an alte Texte” gestellt – und mit einem Mal zeigt sich, dass Eurydice nicht mehr stumm ist. Sie reiht sich in die lange Reihe ungehaltener Frauen ein, denen Christine Brückner 1983 ungehaltene Reden in den Mund legte.

Es sind überwiegend Frauen, die mit der Erfahrung von Jahrtausenden, in denen sie schweigen mussten, nun der Eurydice eine Stimme geben. Hilda Doolittle präsentiert sie in ihrem Gedicht Eurydice (1917) als eine Frau mit eigener Identität. Sie nennt Orpheus “arrogant”, weil er ihre Ruhe gestört habe und weil er denke, dass nur seine Welt schön sei: „My hell is no worse than yours“ und fährt fort „ I have the fervour of myself for a presence / and my own spirit for light”. Für Edith Sitwells Eurydice (Eurydice, 1945) ist der Tod im Lebenszyklus ebenso wichtig wie die Sonne, die mit ihrer wiederbelebenden Kraft Leben schafft, während ihr der Tod hilft, weise zu werden, um die Trennung von Orpheus zu überwinden. Die Liebe jedoch ist stärker als der Tod. Sie “… shines like fire. O bright gold of the heat of the Sun / Of Love across the dark fields – burning away / rough husks of Death / Till all is fire, and bringing all to harvest!”
Vorwurfsvoll sind die Worte, die Margaret Atwood der Eurydice in den Mund legt: „The return to time was not my choice. By then I was used to silence.”
Vorwurfsvoll sind dagegen die Worte, die Margaret Atwood der Eurydice (Orpheus I, 1984) in den Mund legt: „…the return to time was not my choice. By then I was used to silence.” Seine Liebe sei nur eine Fessel („You had your old leash with you, love you might call it“) und sie selbst sei für ihn nur ein Wunschbild (hallucination). „You could not believe I was more than your echo.” Die Eurydice, die uns Carol Ann Duffy zeigt (Eurydice, 1999), hält sogar eine bitterböse Philippika gegen Orpheus und ihre erzwungene Rückkehr an die Oberwelt. In der Unterwelt fühlt sie sich sicher vor Orpheus‘ Nachstellungen: „…in the one place you’d think a girl would be safe / from the kind of a man / who follows her round / writing poems, / hovers about / while she reads them, / calls her His Muse…”. Sie nennt ihn “Big O. / Larger than life. / With his lyre / and a poem to pitch, with me as the prize.” Doch sie muss ihm folgen, “Eurydice, Orpheus’ wife – / to be trapped in his images, metaphors, similes, / octaves and sextets, quatrains and couplets, / elegies, limericks, villanelles, / histories, myths…”, bis sie ihn schließlich dazu bringt, sich nach ihr umzudrehen. Sie schmeichelt sein Ego, indem sie eins seiner Gedichte lobt: „Orpheus, your poem’s a masterpiece. / I’d love to hear it again… / He was smiling modestly, / when he turned, / when he turned and he looked at me. / What else? / I noticed he hadn’t shaved. / I waved once and was gone.”

Eurydice hat sich emanzipiert und vertritt nun vehement ihren Standpunkt. Sie ist nicht länger nur ein schmückendes Accessoire des Orpheus, das Traumbild seiner Dichterphantasie. Angeregt durch die feministische Sicht auf die europäische Mentalitätsgeschichte findet eine Verschiebung der Position der Eurydice vom Objekt- zum Subjektstatus statt.
An der Rezeptionsgeschichte des Orpheus-Mythos wird der Wandel sichtbar, dem jeder Mythos unterworfen ist. Die Künstlerinnen und Künstler sind, wie Hans Blumenberg 1979 schrieb, bei der Neugestaltung mythologischer Stoffe unter dem Druck einer neuen Rezeptionslage herausgefordert, den Kernbestand des jeweiligen Mythos auf seine Haltbarkeit abzuklopfen. Letztendlich ist es dies, was Künstler und Künstlerinnen immer wieder reizt, alte Mythen von einem heutigen Gesichtspunkt aus neu zu denken.
Photo (c) Sarah Naumann
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